Die pädagogische Dimension des Zirkus

Der traditionelle Zirkus mit Wild- und Haustieren hat eine große pädagogische Bedeutung. Dies wird von Menschen, die sich nur oberflächlich mit dem Thema "Zirkus" beschäftigen, gerne übersehen.

Der Zirkus zeigt im Unterschied zu anderen Haltungsformen die Tiere in Aktion. Bei den Darbietungen können die Besucher die natürlichen Bewegungsabläufe der Tiere sehen; denn die sog. „Kunststücke“, die die Tiere in der Manege zeigen, sind in der Regel ihrem natürlichen Verhalten entlehnt. So kommen z.B. die Gangarten der Hohen Schule beim Imponierverhalten der Hengste vor (weitere Beispiele: das Steigen der Pferde und der Raubtiere findet sich bei Rangordnungskämpfen, der Sprung der Raubtiere beim Fangen der Beute, das Aufrichten der Elefanten auf den Hinterbeinen bei der Futtersuche, das Balancieren der Seelöwen mit Gegenständen kann als Weiterentwicklung des Spielverhaltens angesehen werden usw.). Dann können die Besucher die Kommunikation zwischen Mensch und Tier, also z.B. die Signale, die der Tierlehrer gibt, und die Reaktionen der Tiere auf diese Signale, studieren. Bei dieser Kommunikation wird das natürliche Ausdrucksverhalten der Tiere sichtbar. Die Tiere präsentieren also in der Manege ihr ganzes Wesen, ihre gesamte Persönlichkeit.

Hinzu kommt, dass der Zirkus seinen Besuchern die Möglichkeit gibt, den Tieren sehr nahe zu kommen und so ihre Austrahlung zu spüren. In vielen Zirkussen können die Besucher sogar hautnahen Kontakt mit Tieren aufnehmen, also z. B. Elefanten anfassen, auf Kamelen oder anderen Tieren reiten oder mit Seelöwen schwimmen. Solche Begegnungen bleiben bei den Besuchern, besonders bei Kindern, viel besser in Erinnerung als jede noch so gut gemachte Fernseh-Dokumentation. Zudem können die Besucher die Pflege und Betreuung der Tiere im rollenden Zoo beobachten und daraus Rückschlüsse auf besondere Eigenarten der Tiere ziehen. Erwähnenswert sind auch die Infoveranstaltungen, die manche Zirkusse anbieten: geführte Zoobesuche für Kindergarten- und Schulkinder, mehrstündige Praktika als Tierpfleger und kommentierte Dressurproben mit der Möglichkeit, den Tierlehrern Fragen zu stellen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zirkusse ihren Besuchern einen umfassenden, bleibenden Eindruck von den gezeigten Tieren vermitteln. Das lädt die Besucher, vor allem die Kinder, zum Weiterfragen und Weiterforschen ein, z.B.: Welchen Sinn hat das gemeinschaftliche Brüllen der Löwen? Warum werden Elefanten mit belaubten Ästen und Zweigen gefüttert? Warum können Seelöwen so gut Bälle balancieren? So manches Tierinteresse, das später in ein Biologie-Studium mündete, so manche Natur- oder Artenschützer-Laufbahn hat mit Zirkusbesuchen in der Kindheit angefangen.

Dirk Candidus (November 2017)